Doppelaufführung im Gymnasium im Schloss
„Es wird schon gut gehen. Warum sollte es nicht gut gehen?“ „Oh Gott, Turbulenzen. Mir wird übel!“ Flugangst-Gedanken eines Touristen, wie sie wohl jeder schon einmal gehabt hat. Katharina Reddig, Lehrerin für Darstellendes Spiel am Gymnasium im Schloss, hatte mit ihrem Kurs eine 45-minütige Szenenfolge über das Reisen erarbeitet. Die Schülerinnen und Schüler des 11. Jahrgangs zeigten am Freitag mit dem Stück „Boarding Time“ das Ergebnis ihrer Semester-Arbeit in der Aula des GiS. Von der Auswahl des Reiseziels (Saufen mit den Kumpels auf Malle oder Städteurlaub mit Caro?) bis zum unsäglichen Verhalten am Frühstücksbuffet des All-inclusive-Hotels deckten die Kursteilnehmer in kurzen Szenen die ganze Palette des deutschen Pauschaltourismus ab. Die Szenen hatten Humor, doch war dies nur die Fassade vor der eigentlichen Aussage des Stückes. Die inhaltslose Konversation im Flugzeug, tausendfach dieselben Fotos vom Eiffelturm, immer wieder „Boarding-Time“ im Flugzeug – in Wiederholungen und retardierenden Momenten wurde die ganze Ödnis und Leere der organisierten Billig-Reisen deutlich, die den Touristen desillusioniert und letztlich gelangweilt wieder in seine Alltagswelt entlassen. Am Ende trifft der durch das Reisen veränderte und nachdenkliche Mensch auf die Freunde, die bei der Rückkehr in der dunklen Wohnung warten und „Überraschung!“ brüllen. Alles bleibt letztlich doch unverändert, die Diskrepanz zwischen Urlaub und Alltag auf immer ungelöst.
Gibt es Auswege aus einem Dilemma ohne Opfer? Muss sich einer für die Gemeinschaft opfern, sich ihr unterwerfen? Ein einsames Dorf in einem tiefen Gebirgstal. Eine Seuche bricht aus, an der die Mutter erkrankt. Hilfe und Medikamente gibt es nur jenseits der Berge, jenseits „des schmalen Grats“. Der Lehrer des Dorfes, einige Männer und die Tochter machen sich auf die beschwerliche Reise. Doch der Weg ist steil, die Tochter kann nicht mehr – vielleicht ist sie auch selbst erkrankt. Soll man umkehren? Oder weitergehen und das Mädchen zurücklassen, sie sogar nach „altem Brauch“ in die Schlucht stürzen, um ihr Leiden zu verkürzen? Der „alte Brauch“ verlangt, dass das Mädchen seiner eigenen Opferung zum Wohl der Gemeinschaft zustimmt – und sie tut es. Mit schlechtem Gewissen stürzen die Männer das Kind ins Dunkel der Tiefe. Das Dorf wird gerettet.
Dieselbe Szenerie. Wieder stellen die Männer das Mädchen vor die Wahl, dem „alten Brauch“ zuzustimmen – für die Rettung aller. Doch diesmal sagt das Mädchen klar und mehrfach: „Nein! Ich will dem „alten Brauch“ nicht folgen! Kehrt um und bringt mich zurück ins Dorf!“ Die Seuche erlischt von selbst, das Leben wurde nicht umsonst geopfert.
Bertolt Brechts Parabeln „Der Jasager/Der Neinsager“ wurden vom DSP-Kurs unter Leitung von Peter Schilffarth eindrucksvoll umgesetzt. Mit weißen Masken verkörperten die Darsteller die Masse der kritiklosen und willfährigen Dorfbewohner, die gedankenlos ein Menschenleben aufgeben – scheinbar für die Gemeinschaft, doch in Wirklichkeit nur, weil „das so Brauch“ ist, weil man es immer so getan hat. Auch der Lehrer als Intellektueller beugt sich letztlich diesem Brauch – der Geist versagt vor der Konvention. Doch in der zweiten Szenerie durchbricht die Tochter den Teufelkreis aus Tradition und gesellschaftlichem Zwang: das Leben des Einzelnen ist ebensoviel wert wie das Leben Vieler. Dem DSP-Kurs gelang es, mit minimalistischen Mitteln die Enge und Bedrückung der Entscheidungssituation so unmittelbar zu gestalten, dass die Zuschauer gebannt dem ca. 30-minütigen Spiel folgten. Der Applaus für beide Vorstellungen war laut und herzlich, doch mancher verließ die Aula des GiS nach dem Spiel um den Wert des Lebens in nachdenklicher Stimmung.
A. Bötel